Freitag, 18. Juli 2014

Absichtliche Missverständnisse! Wir stellen die interkulturelle Trainerin Andrea Wanner vor.

Andrea Wanner in ihrem Büro an der Volkshochschule Schwäbisch Hall. Sie ist Fachbereichsleiterin für Kultur und die Werkstatt Kunst und leitet die Frauenakademie.
Seit Projektanfang 2009 war Andrea Wanner mit Patricia Masibay verantwortlich für die interkulturellen Einheiten im Programm. 2013, nach vier erfolgreichen Staffeln widmete Andrea Wanner sich neuen Herausforderungen, und die Zeit ist seitdem so schnell verflogen, dass wir sie erst jetzt richtig vorstellen können. Darum hat Patricia Masibay sich noch einmal mit Andrea Wanner zum Gespräch getroffen. 


2014 feiert Abenteuer Vielfalt sein fünfjähriges Jubiläum. Das interkulturelle Theaterprojekt hat viele Facetten und ambitionierte Ziele. Der Unterschied und gleichzeitig die Besonderheit dieser Ausbildung zum/zur Jugendbegleiter/-in ist der praxisorientierte Schwerpunkt auf Interkulturalität. Ein solches Programm wird erst möglich durch Teammitglieder, die neben Begeisterung und Offenheit auch die Erfahrung und Kenntnisse über interkulturelle Kompetenz mitbringen und transportieren können. “Sie hat die ersten Steine für die interkulturellen Einheiten gelegt” sagt Projekt-Mitgründerin Farnaz Schaefer über Andrea Wanner. “Mit viel Ruhe und Fachwissen öffnete sie Augen. Vielleicht wäre es ohne Andrea nie so weit gekommen – und das wäre schade”, fügt Theaterpädagoge Andreas Entner hinzu.

Andrea Wanner wurde in Stuttgart geboren und lebt seit mehr als 20 Jahren in Schwäbisch Hall. Sie ist mit einem Lehrer verheiratet und hat drei – inzwischen erwachsene – Söhne. Sie ist Fachbereichsleiterin an der Volkshochschule für Kultur und für die Werkstatt Kunst und leitet die Frauenakademie. In ihrer Freizeit ist sie gern mit ihrem Mann unterwegs, um Neues kennenzulernen, und verbringt viel Zeit mit Lesen.


Was bedeutet Vielfalt für dich?
„Vielfalt ist ein zentraler Begriff für mich: Die Welt ist voller Dinge, Menschen, Situationen. Sie alle haben ihre Daseinsberechtigung. Ich kann erst mal schauen und muss nicht gleich bewerten. Ich kann Dinge stehen lassen. Ich kann mich darauf einlassen oder nicht. Vielfalt ist, was um mich herum passiert. Ich habe mir Dinge ausgesucht, habe mein Leben. Andere tun andere Sachen. Ich muss nicht gleich entscheiden, was besser ist, was richtig ist oder eher zum Ziel führt. Ich lasse mich auf die Menschen ein und nehme sie an, wie sie sind.

Das hat nicht nur mit der interkulturellen Vielfalt zu tun, sondern es fängt gleich bei meinen Nachbarn an, die anders leben als ich, und auch bei meinen Kollegen und Freunden – und das ist unglaublich bereichernd. Und das wird auf die interkulturelle Dimension erweitert. Ältere, jüngere Menschen, Leute mit anderen Berufen und Erfahrungen, Menschen aus anderen Ländern oder Menschen, die woanders gelebt haben. All das zusammen macht Vielfalt aus, und das genieße ich total: bei meinen Begegnungen mit ihnen und ihren Erzählungen und besonders beim interkulturellen Essen.“


Wo hast du interkulturelle Begegnungen erfahren?
„Die Begegnung mit Vielfalt hat bei mir sehr früh in der Schule angefangen: In der dritten Klasse war ein neues Mädchen zu uns gekommen. Sie hieß Kanan Sisa. Wir dachten an Sissi aus den Filmen und nannten sie ein Schuljahr lang Sisa. Am Ende des Schuljahrs ging sie wieder, und es hat sich herausgestellt, dass Sisa eigentlich ihr Familienname war, und ihr Vorname war Kanan. Ich war damals acht Jahre alt, und ich war furchtbar traurig. Ich fand es schrecklich, dass wir das nicht wussten und sie ein Jahr lang falsch angeredet haben, weil sich niemand darum gekümmert hat. Solche kleinen Erfahrungen habe ich mein Leben lang gesammelt und immer wieder gefühlt, es passte nicht.“


Wie ging es weiter?
„Über interkulturelle Unterschiede nachzudenken, habe ich ganz konkret im Studium begonnen. Ich bin für ein Semester nach England gegangen. In Manchester lebte ich in einer kulturell bunt gemischten Wohngemeinschaft. Die ganze Welt war auf engstem Raum vertreten, und wir saßen Abende und Nächte lang zusammen. Es gab eine Fritteuse, wo die Bananen reinkamen und die Eier und die Kartoffeln und die Würste und alles nacheinander. Es hat Spaß gemacht zu beobachten, dass alle anders sind, alle auf unterschiedliche Dinge anders reagieren, und es trotzdem ganz viele Gemeinsamkeiten gibt. Für mich war es wieder ein Sammeln von Momenten, und dann dachte ich, man könnte noch mehr tun: Man könnte sich doch zu dem persönlichen Erleben theoretische Hintergründe verschaffen. Es hat mich interessiert, ob es einen Überbau gibt zu dem, was ich tue und was ich gerne tun möchte.“


Wie hat dein Studium der Literaturwissenschaft dazu beigetragen?
„Ich habe deutsche, englische und amerikanische Literatur studiert. Das Studium der Literatur ist schon an sich ein Beschäftigen mit unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Ansätzen. Es ist auch immer wieder ein Spüren und Entdecken, dass es vieles gibt, was die Menschen in allen Zeiten überall auf der Welt vereint.

Ich habe viel gelesen, aber für die Frage nach interkultureller Kompetenz und Vielfalt habe ich bisher keinen Autor gefunden, der alleine die Antwort auf den Punkt gebracht hätte. Ich denke, alles liegt immer in der Vielfalt begründet, nie im Einzelnen. Es puzzelt sich zusammen. Das ist spannend. Ich glaube, es ist die Offenheit, nie zu sagen: ,Das ist es!’ , sondern: ,Ah, das gibt’s auch noch!‘ Diese Offenheit ist für mich das, was interkulturelle Kompetenz ausmacht: Man bleibt offen und ist in der Lage, angemessen zu interagieren.“


Wie passt für dich das Improvisationstheater zum Projekt Abenteuer Vielfalt?
„Das Mittel ‚Theater‘ ist optimal für Abenteuer Vielfalt und interkulturelle Kompetenz. Man erzeugt eine eigene kleine Realität, steht auf einmal mittendrin und kann es erleben. Es ist wie im wahren Leben, und doch ist es das nicht. Man hat einen ‚Ausprobier-Raum‘, einen Spielraum, und kann sich da auf Dinge einlassen, die draußen in einem anderen Maßstab genauso passieren könnten.

Unser Leben erfordert ständiges Umdenken, Reagieren, neue Pläne, und deshalb denke ich, das Improvisationstheater ist das, was der Realität am nächsten kommt.“


Wie hast Du von diesem Projekt gehört, und warum hast Du dich entschlossen mitzumachen?
„Ich war Dozentin an der Volkshochschule für Deutsch als Fremdsprache, hatte mich in einer Fortbildung intensiv mit interkultureller Kompetenz beschäftigt und wurde gefragt, ob ich das nicht probieren wollte – zumal (jetzt muss ich aus der Rolle fallen) wir beide uns zu diesem Zeitpunkt ja schon kannten, und es schnell klar war, dass wir ähnliche Vorstellungen hatten und gemeinsam ein Konzept für den interkulturellen Part der Ausbildung auf die Beine stellen würden.


Was war dein persönlicher Ansatz bei Abenteuer Vielfalt?
„Interkulturelle Kompetenz aus der Theorie in die Praxis zu holen, um Jugendliche damit zu packen, fand ich von Anfang an spannend. Ich dachte sofort an meinen eigenen Erfahrungshorizont und an den der jungen Abenteurer, um dann die richtigen Fragestellungen in Einheiten vermitteln zu können. Der spielerische Ansatz, nämlich einen Rahmen zu schaffen, in dem exemplarisch kleine Situationen nachgestellt werden, die im Großen auch funktionieren, hat unsere Jugendlichen direkt erreicht. Man kann das Gefühl von Zugehörigkeit oder das Gefühl, Außenseiter zu sein, künstlich durch ein Spiel hervorrufen, und die Teilnehmenden können unmittelbar erleben und vergleichen, wie sich beides anfühlt. Ich glaube, es ist uns in unseren Einheiten von Anfang an gut gelungen, über Spiele kleine Realitäten zu konstruieren und dabei auf Dinge einzugehen, die tatsächlich interkulturelle Kompetenz ausmachen: Absichtliche Missverständnisse durch die Spielanlage zu provozieren, die genau das zur Folge haben, was im wahren Leben bei Missverständnissen auch passiert.“


Was denkst du über den Erfolg von Abenteuer Vielfalt?
„Bei dem Fokus, der auf Theater und Theaterspielen lag, glaube ich, dass das Nachdenken über kulturelle Unterschiede bei den Teilnehmenden schon etwas in Gang gesetzt hat: Dass ich meinen Ethnozentrismus ablegen muss, wenn ich einen kulturell anders Denkenden verstehen möchte. Ich kann nicht davon ausgehen, dass meine Kultur die richtige ist, und dass ich weiß, wie alles geht. Man muss sich überwinden und sich öffnen.

Ich habe beobachtet, dass alle Jugendlichen, die sich wirklich darauf eingelassen haben, sich selbst zum einen bestärkt gesehen haben, zum anderen aber auch ihren Umgang mit anderen infrage gestellt haben. Dieses Innehalten und sich fragen: ,Was mache ich da? Das ist meine Sicht, wie könnte es der oder die andere sehen?’ ist einfach wichtig. Überhaupt ist es wichtig zu erkennen, dass wir eine Kultur haben, die uns prägt und die wir immer mit uns herumtragen, dass wir eine „Kulturbrille“ tragen. Und das oft unbewusst. Ich finde es wichtig, egal in welchem Alter, Vorurteile abzubauen und erst einmal immer und überall offen zu sein. Für mich war es das Ziel, bei den Jugendlichen diese Offenheit zu fördern, damit sie eine Haltung entwickeln konnten, die nicht gleich bewertet, in die Ecke drängt und dem anderen die Luft wegnimmt.“


Zum Abschluss: Was nimmst Du mit von Abenteuer Vielfalt?
„Ich habe für mich viel mitgenommen, jede einzelne Einheit war neu und aufregend. Ich habe über die Ernsthaftigkeit gestaunt, die die jungen Teilnehmenden an den Tag legten. Auf der anderen Seite haben wir viel gelacht und Spaß gehabt. Es war VIELFÄLTIG und einfach gut. Ich hoffe, dass es sich genau in dieser Art noch Nachhaltigkeit weiterentwickelt, die wir für ein gutes Miteinander in dieser Stadt, diesem Land, auf dieser Erde brauchen. Und ich freue mich, dass das Projekt weiter läuft und junge Menschen erreicht. So ein leises Bedauern, dass ich nicht mehr mit dabei bin, gibt es natürlich auch. Aber alles hat seine Zeit, und ich beobachte Abenteuer Vielfalt weiter und wünsche dem tollen Projekt und allen, die es tragen, weiterhin viel Erfolg.“


Andrea Wanner (rechts) macht mit Farnaz Schaefer eine kurze Vorstellung des Projekts vor der öffentlichen Aufführung der Abenteurer aus Staffel 3 (2011-2012). Foto: ©Freilichtspiele/Jürgen Weller Fotografie (fls) 

Andrea Wanner leitet eine Übung über sichtbare und unsichtbare Eigenschaften bei der ersten Staffel (2009-2010) des Projekts Abenteuer Vielfalt ein.


Fotos: Patricia Masibay

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