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Andrea Wanner in ihrem Büro an der Volkshochschule Schwäbisch Hall. Sie
ist Fachbereichsleiterin für Kultur und die Werkstatt Kunst und leitet die
Frauenakademie.
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Seit Projektanfang 2009 war Andrea Wanner mit Patricia Masibay
verantwortlich für die interkulturellen Einheiten im Programm. 2013, nach vier
erfolgreichen Staffeln widmete Andrea Wanner sich neuen Herausforderungen, und
die Zeit ist seitdem so schnell verflogen, dass wir sie erst jetzt richtig
vorstellen können. Darum hat Patricia Masibay sich noch einmal mit Andrea
Wanner zum Gespräch getroffen.
2014 feiert Abenteuer Vielfalt sein
fünfjähriges Jubiläum. Das interkulturelle Theaterprojekt hat viele Facetten
und ambitionierte Ziele. Der Unterschied und gleichzeitig die Besonderheit
dieser Ausbildung zum/zur Jugendbegleiter/-in ist der praxisorientierte
Schwerpunkt auf Interkulturalität. Ein solches Programm wird erst möglich durch
Teammitglieder, die neben Begeisterung und Offenheit auch die Erfahrung und Kenntnisse
über interkulturelle Kompetenz mitbringen und transportieren können. “Sie hat
die ersten Steine für die interkulturellen Einheiten gelegt” sagt
Projekt-Mitgründerin Farnaz Schaefer über Andrea Wanner. “Mit viel Ruhe und
Fachwissen öffnete sie Augen. Vielleicht wäre es ohne Andrea nie so weit
gekommen – und das wäre schade”, fügt Theaterpädagoge Andreas Entner hinzu.
Andrea Wanner wurde in Stuttgart geboren und lebt seit mehr als 20
Jahren in Schwäbisch Hall. Sie ist mit einem Lehrer verheiratet und hat drei – inzwischen
erwachsene – Söhne. Sie ist Fachbereichsleiterin an der Volkshochschule für
Kultur und für die Werkstatt Kunst und leitet die Frauenakademie. In ihrer
Freizeit ist sie gern mit ihrem Mann unterwegs, um Neues kennenzulernen, und
verbringt viel Zeit mit Lesen.
Was bedeutet Vielfalt für dich?
„Vielfalt ist ein zentraler Begriff für mich: Die Welt ist voller Dinge,
Menschen, Situationen. Sie alle haben ihre Daseinsberechtigung. Ich kann erst
mal schauen und muss nicht gleich bewerten. Ich kann Dinge stehen lassen. Ich
kann mich darauf
einlassen oder nicht. Vielfalt ist, was um mich herum passiert. Ich habe mir
Dinge ausgesucht, habe mein Leben. Andere tun andere Sachen. Ich muss nicht
gleich entscheiden, was besser ist, was richtig ist oder eher zum Ziel führt.
Ich lasse mich auf die Menschen ein und nehme sie an, wie sie sind.
Das hat nicht nur mit der interkulturellen Vielfalt zu tun, sondern es
fängt gleich bei meinen Nachbarn an, die anders leben als ich, und auch bei
meinen Kollegen und Freunden – und das ist unglaublich bereichernd. Und das
wird auf die interkulturelle Dimension erweitert. Ältere, jüngere Menschen,
Leute mit anderen Berufen und Erfahrungen, Menschen aus anderen Ländern oder
Menschen, die woanders gelebt haben. All das zusammen macht Vielfalt aus, und
das genieße ich total: bei meinen Begegnungen mit ihnen und ihren Erzählungen
und besonders beim interkulturellen Essen.“
Wo hast du interkulturelle Begegnungen erfahren?
„Die Begegnung mit Vielfalt hat bei mir sehr früh in der Schule
angefangen: In der dritten Klasse war ein neues Mädchen zu uns gekommen. Sie
hieß Kanan Sisa. Wir dachten an Sissi aus den Filmen und nannten sie ein
Schuljahr lang Sisa. Am Ende des Schuljahrs ging sie wieder, und es hat sich
herausgestellt, dass Sisa eigentlich ihr Familienname war, und ihr Vorname war
Kanan. Ich war damals acht Jahre alt, und ich war furchtbar traurig. Ich fand
es schrecklich, dass wir das nicht wussten und sie ein Jahr lang falsch
angeredet haben, weil sich niemand darum gekümmert hat. Solche kleinen Erfahrungen habe
ich mein Leben lang gesammelt und immer wieder gefühlt, es passte nicht.“
Wie ging es weiter?
„Über interkulturelle Unterschiede nachzudenken, habe ich ganz konkret
im Studium begonnen. Ich bin für ein Semester nach England gegangen. In
Manchester lebte ich in einer kulturell bunt gemischten Wohngemeinschaft. Die
ganze Welt war auf engstem Raum vertreten, und wir saßen Abende und Nächte lang
zusammen. Es gab eine Fritteuse, wo die Bananen reinkamen und die Eier und die
Kartoffeln und die Würste und alles nacheinander. Es hat Spaß gemacht zu
beobachten, dass alle anders sind, alle auf unterschiedliche Dinge anders
reagieren, und es trotzdem ganz viele Gemeinsamkeiten gibt. Für mich war es
wieder ein Sammeln von Momenten, und dann dachte ich, man könnte noch mehr tun:
Man könnte sich doch zu dem persönlichen Erleben theoretische Hintergründe
verschaffen. Es hat mich interessiert, ob es einen Überbau gibt zu dem, was ich
tue und was ich gerne tun möchte.“
Wie hat dein Studium der Literaturwissenschaft dazu beigetragen?
„Ich habe deutsche, englische und amerikanische Literatur studiert. Das
Studium der Literatur ist schon an sich ein Beschäftigen mit unterschiedlichen
Kulturen und unterschiedlichen Ansätzen. Es ist auch immer wieder ein Spüren
und Entdecken, dass es vieles gibt, was die Menschen in allen Zeiten überall
auf der Welt vereint.
Ich habe viel gelesen, aber für die Frage nach interkultureller Kompetenz
und Vielfalt habe ich bisher keinen Autor gefunden, der alleine die Antwort auf
den Punkt gebracht hätte. Ich denke, alles liegt immer in der Vielfalt
begründet, nie im Einzelnen. Es puzzelt sich zusammen. Das ist spannend. Ich
glaube, es ist die Offenheit, nie zu sagen: ,Das ist es!’ , sondern: ,Ah, das
gibt’s auch noch!‘ Diese Offenheit ist für mich das, was interkulturelle Kompetenz
ausmacht: Man bleibt offen und ist in der Lage, angemessen zu interagieren.“
Wie passt für dich das Improvisationstheater zum Projekt Abenteuer
Vielfalt?
„Das Mittel ‚Theater‘ ist optimal für Abenteuer Vielfalt und interkulturelle
Kompetenz. Man erzeugt eine eigene kleine Realität, steht auf einmal mittendrin
und kann es erleben. Es ist wie im wahren Leben, und doch ist es das nicht. Man
hat einen ‚Ausprobier-Raum‘, einen Spielraum, und kann sich da auf Dinge
einlassen, die draußen in einem anderen Maßstab genauso passieren könnten.
Unser Leben erfordert ständiges Umdenken, Reagieren, neue Pläne, und
deshalb denke ich, das Improvisationstheater ist das, was der Realität am
nächsten kommt.“
Wie hast Du von diesem
Projekt gehört, und warum hast Du dich entschlossen mitzumachen?
„Ich war Dozentin an der Volkshochschule für Deutsch als Fremdsprache,
hatte mich in einer Fortbildung intensiv mit interkultureller Kompetenz
beschäftigt und wurde gefragt, ob ich das nicht probieren wollte – zumal (jetzt
muss ich aus der Rolle fallen) wir beide uns zu diesem Zeitpunkt ja schon
kannten, und es schnell klar war, dass wir ähnliche Vorstellungen hatten und
gemeinsam ein Konzept für den interkulturellen Part der Ausbildung auf die
Beine stellen würden.
Was war dein persönlicher Ansatz bei Abenteuer Vielfalt?
„Interkulturelle Kompetenz aus der Theorie in die Praxis zu holen, um
Jugendliche damit zu packen, fand ich von Anfang an spannend. Ich dachte sofort
an meinen eigenen Erfahrungshorizont und an den der jungen Abenteurer, um dann die
richtigen Fragestellungen in Einheiten vermitteln zu können. Der spielerische
Ansatz, nämlich einen Rahmen zu schaffen, in dem exemplarisch kleine
Situationen nachgestellt werden, die im Großen auch funktionieren, hat unsere
Jugendlichen direkt erreicht. Man kann das Gefühl von Zugehörigkeit oder das
Gefühl, Außenseiter zu sein, künstlich durch ein Spiel hervorrufen, und die
Teilnehmenden können unmittelbar erleben und vergleichen, wie sich beides
anfühlt. Ich glaube, es ist uns in unseren Einheiten von Anfang an gut
gelungen, über Spiele kleine Realitäten zu konstruieren und dabei auf Dinge einzugehen,
die tatsächlich interkulturelle Kompetenz ausmachen: Absichtliche
Missverständnisse durch die Spielanlage zu provozieren, die genau das zur Folge
haben, was im wahren Leben bei Missverständnissen auch passiert.“
Was denkst du über den Erfolg von Abenteuer Vielfalt?
„Bei dem Fokus, der auf Theater und Theaterspielen lag, glaube ich, dass
das Nachdenken über kulturelle Unterschiede bei den Teilnehmenden schon etwas in
Gang gesetzt hat: Dass ich meinen Ethnozentrismus ablegen muss, wenn ich einen
kulturell anders Denkenden verstehen möchte. Ich kann nicht davon ausgehen,
dass meine Kultur die richtige ist, und dass ich weiß, wie alles geht. Man muss
sich überwinden und sich öffnen.
Ich habe beobachtet, dass alle Jugendlichen, die sich wirklich darauf
eingelassen haben, sich selbst zum einen bestärkt gesehen haben, zum anderen
aber auch ihren Umgang mit anderen infrage gestellt haben. Dieses Innehalten
und sich fragen: ,Was mache ich da? Das ist meine Sicht, wie könnte es der oder
die andere sehen?’ ist einfach wichtig. Überhaupt ist es wichtig zu erkennen,
dass wir eine Kultur haben, die uns prägt und die wir immer mit uns herumtragen,
dass wir eine „Kulturbrille“ tragen. Und das oft unbewusst. Ich finde es
wichtig, egal in welchem Alter, Vorurteile abzubauen und erst einmal immer und
überall offen zu sein. Für mich war es das Ziel, bei den Jugendlichen diese
Offenheit zu fördern, damit sie eine Haltung entwickeln konnten, die nicht
gleich bewertet, in die Ecke drängt und dem anderen die Luft wegnimmt.“
Zum Abschluss: Was nimmst
Du mit von Abenteuer Vielfalt?
„Ich habe für mich viel mitgenommen, jede einzelne Einheit war neu und
aufregend. Ich habe über die Ernsthaftigkeit gestaunt, die die jungen
Teilnehmenden an den Tag legten. Auf der anderen Seite haben wir viel gelacht
und Spaß gehabt. Es war VIELFÄLTIG und einfach gut. Ich hoffe, dass es sich genau
in dieser Art noch Nachhaltigkeit weiterentwickelt, die wir für ein gutes
Miteinander in dieser Stadt, diesem Land, auf dieser Erde brauchen. Und ich
freue mich, dass das Projekt weiter läuft und junge Menschen erreicht. So ein
leises Bedauern, dass ich nicht mehr mit dabei bin, gibt es natürlich auch.
Aber alles hat seine Zeit, und ich beobachte Abenteuer Vielfalt weiter und
wünsche dem tollen Projekt und allen, die es tragen, weiterhin viel Erfolg.“
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Andrea Wanner (rechts) macht mit Farnaz Schaefer eine kurze Vorstellung
des Projekts vor der öffentlichen Aufführung der Abenteurer aus Staffel 3
(2011-2012). Foto: ©Freilichtspiele/Jürgen Weller Fotografie (fls)
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Andrea Wanner
leitet eine Übung über sichtbare und unsichtbare Eigenschaften bei der ersten
Staffel (2009-2010) des Projekts Abenteuer Vielfalt ein.
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Fotos: Patricia Masibay